Gedichte,
Geschichten und Erlebnisse
Märchen
-
eine mögliche Gestaltung der Weisheit -
Der
Weise von dem Berg Fuji
Man
erzählt, dass einmal, im Altertum, auf dem Berg Fuji, einsam
wie ein Asket, ein weiser Mann gelebt hätte. Dieser Weise,
wurde gesagt, hatte Antworten auf alle Fragen des Lebens und
der Welt. Das Mysterium dieses Mannes hat viele Menschen begeistert,
und viele von ihnen haben in der Hoffnung gelebt, dass sie irgendwann,
auf irgendeine Weise, in das Gebiet dieses Mannes treten werden.
Niemand wusste viel über die Lebensweise des alten Mannes.
Er
habe, anscheinend, eine besondere Lebensweise, da seine Legende
durch die Zeit bis zum heutigen Tag andauert. Derjenige, der
zu dem Weisen gehen wollte, musste unbedingt alleine durch den
Wald und die Felsen wandern. Der Weg war schwierig und lang,
so lang daß derjenige, der sich entschieden hatte, Monate
oder sogar Jahre auf dem Weg zu dem so genannten Königreich
der Weisheit brauchte.
Und noch eine Bedingung: Der Wanderer durfte niemandem ein Wort
über die Reise sagen. Das Geheimnis durfte nicht laut werden,
sondern verdeckt bleiben. Weil der Wanderer Tag und Nacht immer
alleine war, hat er sich viele Gedanken gemacht: "Was werde
ich dem Weisen sagen, und wie soll ich fragen?". Und so
allmählich, ohne es zu wissen, allein mit seinen Gedanken,
rutschte er in die Nähe der lebensphilosophischen Fragen.
"Woher komme ich, und wohin gehe ich? Hat mein Leben ein
Sinn, der mich stetig begleiten soll? Und wenn ja, worin besteht
er? Was wird mir bleiben wenn ich alles verlieren werde? Wohl
Gott sieht alles was ich tu, und weiß alles, woran ich
denke? Ist das Dasein Gottes für mich als Mensch möglich
zu verstehen? Was wird mein Leben nach dem Tod sein? Wenn mein
Leben überhaupt einen Sinn hat, was muss ich wissen um
würdig leben zu können, um glücklich zu sein.
Die Reise zu dem Gebiet der Weisheit war zugleich eine Reise
durch sein eigenes Leben und Bewusstsein.
Die Zeit verging schnell, und als er auf der Höhe des Berges
angekommen war, hatte er niemanden gesehen. Er hatte sich entschieden
noch ein wenig zu warten; wahrscheinlich musste der Weise in
der Nähe sein. Schweigend dachte er daran, dass der gefragte
Mann wohl jedem Augenblick ankommen muss, vielleicht ist er
damit beschäftigt, Nahrung für den nächsten Tag
zu besorgen.
Die
Ruhe des Ortes prägte sich tief in seiner Seele ein, und
er saß alleine mit sich selbst, und wartete darauf, den
Weisen endlich vor den Augen zu haben. Über ihm war nur
der blaue Himmel.
"Wo
bin ich jetzt, habe ich mein Ziel erreicht? Ich wollte eigentlich
den weisen Mann treffen, um das Geheimnis der Weisheit zu finden,
nun sehe, dass es hier keine Menschenseele gibt, die auf all
meinen Fragen antworten soll. Fragend und denkend bin ich..."
und plötzlich hörte er auf zu reden .Der gefragte
weise Mann, den er suchte, ist er selbst geworden. Die Weisheit,
wovon er geträumt hat, liegt in ihm selbst. Der Wanderer
wusste schließlich, was es heißt, weise zu sein.
© 2002Cosmin Neidoni
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Legende
Ein
Becher voll Maya
Vor
langer Zeit lebte in Indien ein Held.
Eines Tages begegnete er Vishnu. Sie wanderten zusammen durch
das Land, und Vishnu fragte ihn, ob er irgendeinen Wunsch habe,
den er ihm erfüllen könne.
"Lehre
mich, was Maya bedeutet", bat der Mann. "Oh nein",
sagte Vishnu, "wünsche dir irgendetwas anderes, nur
nicht das!"
"Aber
ich möchte von Dir lernen, was Maya bedeutet", antwortete
der Mann.
"Du
kannst dir alles wünschen", sagte Vishnu, "eine
schöne, hingebungsvolle Frau, grosse Reichtümer, Paläste,
Gesundheit, ein langes Leben."
"Ich
möchte lernen, was Maya bedeutet", antwortete der
Mann.
"Nun
gut", sagte Vishnu, "wenn das dein Wunsch ist, werde
ich ihn erfüllen.
Aber hole mir bitte zuerst einen Becher voll Wasser von dem
Bauernhaus da drüben, und dann werde ich dich lehren, was
Maya bedeutet."
Der
Mann ging zu dem Bauernhaus und klopfte höflich an die
Tür. Die Tür wurde von der schönsten Frau geöffnet,
die er je gesehen hatte. Sie war nicht nur wunderschön,
sie hatte auch tiefe, seelenvolle Augen. Er sah in diese Augen
und verliebte sich. In diesem Augenblick wusste er, dass sie
sich von früheren Leen her kannten und dass sie füreinander
bestimmt waren. Sie wusste es ebenfalls. Sie bat ihn ins Haus
und stellte ihn ihrer Familie vor. Ihre Eltern hiessen ihn willkommen,
als sei er ihr eigener, geliebter Sohn. Als er mit ihnen beisammen
sass, fühlte er so tiefen Frieden in sich, dass er wusste,
hier war er zu Hause.
Er
hielt um die Hand des Mädchens an, und die Eltern gaben
mit Freuden ihren Segen. Sie schenkten dem Paar ein Stück
Land und ein kleines Bauernhaus. Es dauerte nicht lange, da
hatte das Paar Kinder. Erst einen kleinen Jungen, dann ein kleines
Mädchen. Ihre Liebe zu den Kindern vertiefte auch ihre
Liebe zu einander. Die Felder brachten reiche Ernte. Sie lebten
mit den Jahreszeiten und waren mit dem Leben zufrieden und glücklich.
Dann,
eines Tages, hörte man schreckliches Donnergrolllen aus
den Bergen. Der Himmel verdunkelte sich, und die Erde bebte,
und eine gewaltige Flut ergoss sich über die Ebene. Der
Mann ergriff seine kleine Tochter mit der einen Hand, seine
Frau und den Jungen mit der anderen. Sie rannten davon. Die
Wassermassen zerstörten zuerst ihre Felder, dann das Haus.
Sie liefen so schnell sie konnten, aber das Wasser um sie herum
begann zu steigen, und eine plötzliche Flutwelle trennte
den Mann von seiner Frau. Er schrie auf und versuchte nach ihr
zu greifen, als sie weg gerissen wurde. Dabei verlor er auch
das Baby, das er getragen hatte. Er schrie wieder auf, und das
Leid zerriss ihm das Herz. Er klagte und weinte, und um ihn
herum tobte der Sturm, der sein Haus, seine Liebe und sein Leben
zerstört hatte. Er blickte nach unten und sah, wie seine
Tränen in das schlammige, tosende Wasser fielen, in dem
er stand. Als die Tränen die Wasseroberfläche berührten,
beruhigte sich das Wasser und wurde klar. Er sah auf und erkannte,
dass er in einen Becher geweint hatte, der er in der Hand hielt.
Er blickte in Vishnus Augen.
Vishnu
lächelte und sagte: "Das ist Maya!"
© aus
dem spirituellen Lesebuch von Margit und Ruediger Dahlke
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Märchen
Gestern
- Heute - Morgen
Der
alte Mann trug auf seinen Schultern einen großen, schweren
Sack, während er tief gebeugt die staubige Straße
hinunterschlurfte.
Er
schaute nur nach unten auf die Straße. Hatte keinen Blick
für den blauen Himmel und die goldene Sonne, die strahlend
über ihm stand. Da kam ein fröhliches Mädchen
mit langen Zöpfen dahergesprungen, sah den Alten und rief
ihm zu: "Was schleppst du denn da so Schweres?
Der
alte, geplagte Mann schaute kurz auf und erwiderte ihr müde:
"In diesem Sack trage ich alle Sorgen meines Lebens mit
mir herum. Das Mädchen schaute verwunderte drein und kam
neugierig näher. "Laß mich doch mal hineinschauen",
bat es ganz artig.
Der
alte Mann zuckte mit den Schultern, seufzte dann tief, und stelle
die schwere Last vor sich auf dem Wege ab. Gemeinsam öffneten
sie den Sack, schauten hinein und sich dann gegenseitig staunend
an.
Der
Sack war völlig leer.
"Wo
sind denn deine Sorgen?" wollte das neugierige Mädchen
wissen. "Ich habe scheußliche Schuldgefühle
aus meiner Vergangenheit und mache mir fortwährend große
Sorgen über mein Zukunft" entgegnete der Alte und
wurde verlegen.
"Schau,"
lächelte das Mädchen den Alten an "deshalb ist
der Sack auch leer. Denn Gestern ist schon vorbei und Morgen
ist noch nicht geboren!" Nur das Heute, richtig gelebt,
ist wichtig!"
Da
wurde der alte Mann froh, warf den leeren Sack fort und umarmte
überglücklich, dankbar und voll Freude das kleine,
neugierige Mädchen. Er hatte das wunderbare Gefühl,
einem Engel begegnet zu sein.
Mit
einem lustigen Lied auf den Lippen war er hüpfend und springend
bald hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.
Lange
noch schaute ihm das Mädchen nach und dachte bei sich:
"Es scheint, als wäre dieser Mensch heute neu geboren
worden."
© von
der Seite des Horus-Instituts
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